Woid G'sichter: Richard Friedrich
Guernsey/Grafenau. Zuhause ist kein Ort, Zuhause ist ein Gefühl. Diese häufig verwendete Floskel scheint für Richard Friedrich maßgeschneidert zu sein. Eigentlich hat der Ausdauerexperte seine Karriere als Leistungssportler seit einiger Zeit beendet. Das Laufen sollte nicht mehr der ausschließliche Lebensinhalt, sondern nur noch ein Hobby für den 39-Jährigen sein - so zumindest die anfängliche Vorgabe.
Auf der Kanalinsel Guernsey, wo der gebürtige Grafenauer mittlerweile wohnt, verbringt er jedoch wieder mehr Zeit in Sportschuhen als ursprünglich geplant. Weil er diese Minuten in der beeindruckenden Natur der britischen Kronkolonie genießen will. Und weil er ehrgeizige Mitstreiter gefunden hat, die seine Leidenschaft teilen.
Die vierköpfige Familie Friedrich fühlt sich auf dem Eiland im Ärmelkanal wohl, keine Frage. Guernsey ist ihr Zuhause. Ihre Heimat ist und bleibt allerdings der Bayerische Wald. Die Eltern leben nach wie vor in Grafenau, genauso wie weitere Verwandte, Bekannte und Freunde. "Es ist sehr schön", betont er, "tiefe Wurzeln zu haben - zu wissen, dass es einen Ort gibt, an den man immer wieder zurückkehren kann. Diese Kontinuität schätze ich sehr." Umso trauriger stimmt es Richard Friedrich, dass er aufgrund der Corona-Beschränkungen seit knapp einem Jahr nicht mehr in die Säumerstadt reisen kann. Wobei: Die Heimat hat man bekanntlich immer bei sich. Im Herzen.
"Diese Kontinuität schätze ich sehr."
Diese tiefe Verbundenheit zur Ferienregion Nationalpark Bayerischer Wald ist nicht gleich erkennbar. Friedrich spricht geschliffenes Hochdeutsch. "Jaja", seufzt er, angesprochen auf den fehlenden Dialekt und erzählt schmunzelnd die dazugehörige Anekdote. "Das war schon in meiner Kindheit ein Problem. Meine Freunde haben mich damit aufgezogen. Immer, wenn es bei uns zu Hause Hühnchen gegeben hat, haben sie mich bewusst danach gefragt, was es denn heute bei uns zum Essen gibt - und dann herzlich gelacht, weil ich nicht Hendl oder Giggerl gesagt habe." Trotz jener Nickligkeiten blickt Richard Friedrich auf eine Kindheit zurück, wie man sie sich klischeehaft vorstellt: Der junge Bursche verbrachte viel Zeit im Freien, im benachbarten Nationalpark, war viel mit Freunden unterwegs. Dabei fühlte er sich nicht zur Blaskapelle oder zur Feuerwehr hingezogen, sondern zum Sport.
Als Fußballer probierte er sich bei den "Stodbärn", wie die Kicker des TSV Grafenau genannt werden. Doch so richtig erfüllend war die Jagd nach dem runden Leder für ihn erst dann, wenn im Laufe der zweiten Halbzeit die meisten Ermüdungserscheinungen zeigten – nur er nicht. "Erst nach einer Stunde Spielzeit hat mir der Fußball Spaß gemacht", blickt er heute zurück.
Seinem Vater, selbst ein passionierter Läufer, blieb das Ausdauertalent seines Sohnes nicht verborgen. Und als er eine Zeitungsanzeige der Leichtathletik Gemeinschaft (LG) Passau las, die darin ihr Stützpunkttraining anpries, nahm die Friedrichs Geschichte ihren buchstäblichen Lauf. Unter Günter Zahn, der bei den Spielen 1972 in München als letzter Fackelläufer das Olympische Feuer entzündete und selbst ein erfolgreicher Athlet war, wurde aus dem zunächst belächelten Quereinsteiger ein überregional bekannter Siegesanwärter bei den Langstrecken-Distanzen.
"Nach einigen Einheiten war ich es dann, der gelacht hat, als ich die 1.000 Meter unter drei Minuten absolviert habe."
"Günter wollte mich zunächst in die Anfängergruppe stecken", erinnert sich Richard Friedrich an die ersten Erlebnisse mit seinem Trainer, Förderer und Wegbegleiter, zu dem er noch heute ein gutes Verhältnis pflegt. "Ich habe darum gebeten, gleich zu den Besseren zu kommen, was er mir mit einem Lächeln erlaubt hatte. Nach einigen Einheiten war ich es dann, der gelacht hat, als ich die 1.000 Meter unter drei Minuten absolviert habe."
Im Gegensatz zu Abermillionen Hobbysportlern, die sich zu ihren Joggingrunden regelrecht quälen müssen, tat sich der Grafenauer von Anfang an leicht. Er entwickelte eine Art Sucht, die ihn dazu antrieb mehr und mehr Kilometer zu „fressen“. Seine Leidenschaft für den Ausdauerbereich hat vor allem zwei Gründe: Einerseits sei das Laufen die "supereinfachste Art rauszukommen, weil es überall und zu jeder Jahreszeit möglich ist". Andererseits bevorzugt er den Individualsport, weil er hier für sich und seine Leistung selbst verantwortlich zeichnet. "Beim Fußball muss man sich auf die Mitspieler verlassen. Doch was, wenn die einen Tag vorher lange weg waren?"
Die Mischung aus Talent, Ehrgeiz und persönlicher Einstellung sorgte schließlich dafür, dass Richard Friedrichs Laufweg von zahlreichen Erfolgen gesäumt war. Vor allem über die Halbmarathon- und Marathon-Distanz machte der Waidler von sich reden. Die absoluten, selbst auserkorenen Höhepunkt dabei: 2010 war er der beste deutsche Starter beim Berlin-Marathon, ein Jahr später gewann er das Pendant in der bayerischen Landeshauptstadt in nur zwei Stunden und 19 Minuten.
Die Prominenz des damals 30-Jährigen in der Ausdauerszene wurde dadurch verstärkt, dass er Marathon-Europameisterin Ulrike Maisch, mit der er inzwischen zwei Kinder hat, kennen und lieben lernte. Im Rückblick spricht Richard Friedrich von einer schönen, ereignisreichen aber auch sehr intensiven Zeit, in der er für seinen Sport lebte. Selbst der Urlaub mit der Lebenspartnerin mutierte zum Trainingslager. Im Gegensatz zu den Fußballern aber, die sich bei ähnlichen internationalen Erfolgen über ein dickes Konto freuen dürfen, musste der Grafenauer weiter seinem Job nachgehen, um seinen Lebensinterhalt zu bestreiten.
Selbst der Urlaub mit der Lebenspartnerin mutierte zum Trainingslager.
Richard Friedrich entschied sich für eine Karriere bei der Bundeswehr. Zum einen, weil er beim "Bund" den sportlichen Aspekt besser ausleben konnte als in der freien Wirtschaft. Zum anderen, weil man als Soldat "viel Verantwortung in bereits jungen Jahren übertragen bekommt und das eine gute Schule für das Leben ist". Der 39-Jährige bevorzugte jedoch eigenen Aussagen zufolge keine „Schleifer-Methoden“, sondern tendierte eher zu seiner freundlich-umgänglichen Art und Weise - "außer wenn es um Sport ging – denn da wusste ich, was durch hartes Training und Einsatz möglich ist".
Dadurch, dass sich Friedrich für eine Tätigkeit als Fluglotse entschied und "nebenbei" Pädagogik studierte, konnte er Auslandseinsätze in den Krisengebieten dieser Welt umschiffen, was ihm auch ganz recht kam. Gleichbedeutend mit seiner Tätigkeit auf Flugplätzen war der Abschied von seiner niederbayerischen Heimat. Lange ist er in Oberbayern stationiert gewesen, nach seinem Ausscheiden im Jahr 2013 bekam er ein Angebot, auf Guernsey zu arbeiten, was er letztlich auch annahm.
Ehe er in seinen Beruf zurückkehrte und die Kinder eingeschult wurden, erfüllte er sich noch gemeinsam mit seiner Familie einen Traum: In einem Camping-Bus tourten die Friedrichs durch den Mittelmeer-Raum. Sie entdeckten nicht nur Länder wie Frankreich, Italien und Spanien für sich, sondern lernten auch verschiedene Kulturen und Lebensweisen kennen. Richard Friedrich, der inzwischen seit Jahrzehnten fernab seiner Heimat lebt, wurde dabei einmal mehr in seiner Erkenntnis bestätigt, dass er sein Heimat-Herz an die Region zwischen Lusen und Rachel verloren hatte…